Totale Vernichtung: USA überlegen Rückkehr zur zerstörerischsten Atomwaffe
MAD: Das Akronym im militärstrategischen Gebrauch ergibt nicht zufällig das Wort „verrückt“ bzw. „wahnsinnig“. Die Mutually Assured Destruction (gegenseitig zugesicherte Zerstörung) war ab 1975 die vorherrschende Doktrin für einen Nuklearkrieg.
Geprägt wurde MAD maßgeblich von der Entwicklung von MIRV. Sowohl die USA als auch die Sowjetunion wollten Mehrfachsprengköpfe einsetzen, um die totale atomare Vernichtung des Feindes herbeizuführen.
Durch Abrüstungsabkommen wie New Start, haben die USA ab 2014 ihre MIRVs aus dem aktiven Dienst ausscheiden lassen. Jetzt wird angestrebt, dass diese zerstörerischste Waffe der Menschheit wieder Einzug ins US-Arsenal hält.
So funktioniert MIRV
Die Sprengköpfe sind auf dem sogenannten Bus (auch Post Boost Vehicle genannt) montiert. Der Bus befindet sich auf der obersten Raketenstufe.
Die Interkontinentalrakete startet, meist aus einem Silo oder von einem U-Boot aus. Die Raketenstufen bringen den Bus in einen suborbitalen Flug in den Weltraum oder zum Rande des Weltraums.
Dort wird der Bus von der Raketenstufe abgetrennt. Mithilfe eines Navigationssystem und kleinen Steuertriebwerken „zielt“ der Bus Richtung Erde und setzt die Sprengköpfe nach und nach, auf die vorprogrammierten Ziele, aus.
Wie weit diese Ziele auseinander sein können, hängt von der Rakete ab und mit wie vielen Sprengköpfen der Bus beladen ist. Die Armeen halten diese Informationen meist geheim. Bei der mittlerweile nicht mehr aktiven UGM-73 Poseidon konnten etwa bei einer Bestückung mit 6 Gefechtsköpfen Ziele 550 Kilometer quer der Flugbahn der Rakete anvisiert werden. Befinden sich die Ziele entlang der Flugbahn der Interkontinentalrakete, sind größere Distanzen auch bei mehr Sprengköpfen möglich.
Chef der Atomstreitkräfte will wieder MIRVs haben
Hardliner in den USA fordern dies schon lange. Jetzt haben sie mit General Anthony Cotton einen prominenten Befürworter. Cotton ist der Leiter des U.S. Strategic Command (STRATCOM). Das STRATCOM ist verantwortlich für die Atomstreitkräfte der USA.
Vor dem US-Senat sagte Cotton, dass die US-Regierung die Wiedereinführung von MIRV „ernsthaft überlegen“ sollte. Er antwortete damit auf die Frage, welche strategischen Maßnahmen, die die USA in nächster Zeit treffen sollten, für ihn Priorität haben.
Er betonte die Wichtigkeit von thermonuklearen Mehrfachsprengköpfen. „Wir sollten ernsthaft das MIRVen unserer Interkontinentalraketen in Betracht ziehen und uns ansehen, was es potenziell braucht, um dies zu bewerkstelligen“, sagte Cotton.
MIRVs für neue Sentinel-Raketen
Das STRATCOM empfiehlt besonders die Sentinel mit Mehrfachsprengköpfen auszustatten. Die Sentinel ist eine Interkontinentalrakete, die aus Silos abgefeuert wird und ab 2027 die Minuteman III ablösen soll. Die Minuteman III ist bereits seit den 70er-Jahren im Dienst.
Die LGM-35A Sentinel befindet sich derzeit in der Testphase. Ursprünglich war geplant, dass sie mit nur einem nuklearen Gefechtskopf ausgestattet wird. Die US Air Force hat schon 2023 gesagt, dass das Design der Sentinel eine MIRV-Konfiguration unterstützt – sollte die Entscheidung getroffen werden, sie so einsetzen zu wollen.
Nach dem noch aktuellen Plan wird die Sentinel mit einem W87-1-Gefechtskopf bestückt. Die Zerstörungskraft davon ist noch nicht bekannt. Beim derzeitigen Modell W87, mit dem die Minuteman-III-Raketen bestückt sind, sollen es 300 Kilotonnen sein, mit der Möglichkeit auf bis zu 475 Kilotonnen zu erhöhen. Zum Vergleich: Die Hiroshima-Bombe hatte eine Sprengkraft von 13 Kilotonnen.
Bis zu 14 Atomschläge mit einer Rakete
Wie viele Sprengköpfe eine MIRV-Sentinel tragen könnte, ist derzeit unbekannt. Vermutlich werden es aber mindestens 10 Stück sein. Die aus Silos abgefeuerte Minuteman III kann bis zu 3 W78 (350 Kilotonnen) in der MIRV-Variante tragen. 400 Minuteman III sind derzeit aktiv, aber sie sind derzeit eben nur mit einem Sprengkopf bestückt.
Die Weiterentwicklung der MIRV-Tauglichkeit wurde damals zu Gunsten der LGM-118 Peacekeeper gestoppt, die 1986 in Dienst gestellt wurde. Sie konnte bis zu 12 Stück W87-Gefechtsköpfe in der MIRV-Konfiguration haben. Aufgrund von Rüstungsabkommen war sie aber nur mit 10 W87s bestückt. 2005 wurde die Peacekeeper außer Dienst gestellt.
Die von U-Booten abgefeuerte UGM-133 Trident II ist ebenfalls MIRV-tauglich und tatsächlich so bestückt. Je nach Gefechtskopf und Konfiguration kann sie bis zu 12 W88 tragen (475 Kilotonnen) oder bis zu 14 W-76-1 (90 Kilotonnen). Ein Ohio-Klasse U-Boot hat 24 Trident II an Bord. Es könnte also auf einem Schlag 336 Ziele mit Nuklearwaffen beschießen. Die USA haben derzeit 14 Ohio-Klasse-U-Boote mit Trident II im Dienst. Aufgrund der Abrüstungsverträge sind die MIRV-Trident-II-Raketen aber durchschnittlich nur mit 4 Sprengköpfen bestückt.
Russland setzt auf MIRV
Im Gegensatz zu den USA hat Russland die MIRV-Fähigkeiten seiner landgestützten Interkontinentalraketen nicht abgerüstet. Die neue Interkontinentalrakete RS-28 Sarmat wird als Gegenstück zur Sentinel gehandelt. Sie kann bis zu 10 Sprengköpfe mit 750 Kilotonnen tragen oder 15 kleinere mit 350 Kilotonnen Sprengkraft.
Das Gegenstück zur amerikanischen Minuteman III ist die R-36. In der neuesten Version R-36M2 ist sie mit 10 Gefechtsköpfen mit einer Sprengkraft von jeweils 750 Kilotonnen bestückt. Aktuell soll Russland 44 R-36M2 in dieser MIRV-Konfiguration besitzen. Diese sollen nach und nach durch die RS-28 ersetzt werden.
Das russische Äquivalent zur Trident II ist die U-Boot-Rakete R-29RMU2 Layner. Sie ist üblicherweise mit 4 Sprengköpfen mit 500 Kilotonnen oder 10 mit 100 Kilotonnen bestückt. Sie wird auf U-Booten der Delta-IV-Klasse eingesetzt. Jedes dieser U-Boote hat 16 R-29RMU2 an Bord. Derzeit sollen nur noch 5 bis 6 Delta-IV-U-Boote im aktiven Dienst sein.
Das Nachfolgemodel ist die RSM-56 Bulava, die 2018 in Dienst gestellt wurde. Sie hat in der MIRV-Konfiguration 10 Gefechtsköpfe mit 150 Kilotonnen geladen. Sie wird bei den neueren Borei-Klasse-U-Booten eingesetzt, von denen derzeit 7 Stück aktiv sind.
Die übrigen MIRV-Nationen
In Europa nutzen lediglich Frankreich und Großbritannien MIRV-Nuklearwaffen. Die französische U-Boot-Rakete M51 hat in der MIRV-Konfiguration 10 Gefechtsköpfe mit je 110 Kilotonnen Sprengkraft. Großbritannien nutzt die amerikanische Trident II.
Chinas aktuelle Varianten der landgestützten Dongfeng-Raketen (DF-5C, DF-41) können mit bis zu 10 Sprengköpfen mit 150 Kilotonnen oder 8 mit 250 Kilotonnen bestückt werden. Diese Angaben sind aber ungenau, weil China nur wenig technische Daten zu seinen Nuklearwaffen bekannt gibt. Chinas U-Boot-Rakete JL-2 soll 3 Gefechtsköpfe mit 150 Kilotonnen Sprengkraft tragen können oder bis zu 8 kleinere Gefechtsköpfe mit weniger Sprengkraft.
Indien und Pakistan entwickeln derzeit MIRV-taugliche Raketen. Israels Rakete Jericho 3 soll MIRV-tauglich sein, dies hat Israel aber bisher nicht offiziell bestätigt.
Totale Vernichtung
MIRVs sind für die vollständige Auslöschung des Feindes konzipiert. Da eine MIRV-Rakete mehrere Ziele gleichzeitig angreifen kann, gilt sie als die zerstörerischste Waffe, die die Menschheit bisher hervorgebracht hat.
Dass mehrere Sprengköpfe gleichzeitig abgefangen werden müssen, macht es für Verteidiger besonders schwer. Zusätzlich haben moderne MIRV-Systeme Gegenmaßnahmen und Täuschkörper, die das Anvisieren und Abfangen der Sprengköpfe verkomplizieren.
Sollte die USA die Sentinel zu einer MIRV-Rakete machen, oder die Minuteman III wieder mit MIRV ausstatten, müsste sie sich dabei an das Rüstungsabkommen New Start halten. Dies gibt eine maximale Menge an nuklearen Gefechtsköpfen und Plattformen, um diese ins Ziel zu bringen, vor. Dazu könnte etwa die Bestückung der Trident-II-Raketen reduziert werden, oder es werden mehr Minuteman III außer Dienst gestellt, als durch Sentinel nachbesetzt werden.
Abrüstungsabkommen läuft aus
Allerdings wird New Start 2026 auslaufen – also bevor die USA Sentinel in Dienst stellen werden. Anhand der aktuellen geopolitischen Situation besteht die Möglichkeit, dass weder Russland noch die USA einen neuen Vertrag zur nuklearen Abrüstung aushandeln wollen. Russland hat bereits 2023 verkündigt, sich vorerst nicht mehr an den aktuell gültigen New-Start-Vertrag zu halten.
„Würde ich mir wünschen, dass China in die Verhandlungen einsteigt und Russland zurück zum Verhandlungstisch kommt? Absolut.“, sagt Cotton: Aber ich bin ein Realist und weiß, dass das möglicherweise nicht passieren wird. Als General ist es mein Job zu wissen, wie eine schlagkräftige Truppe aufgebaut wird, falls das nicht passiert.“