RTVS
Taiwans neuer Geländewagen ist mit 42 Raketen bewaffnet
In Taiwans Hauptstadt Taipei hat die Aerospace & Defense Technology Exhibition stattgefunden. Die gezeigten Rüstungsgüter sind den geopolitischen Gegebenheiten angepasst – also wie ein kleines Land (Taiwan) möglichst effizient ein großes (China) abwehren kann.
Ein ähnliches David-vs-Goliath-Szenario findet seit 3 Jahren in der Ukraine statt. Da dort Drohnen sowohl von den ukrainischen Verteidigern als auch den russischen Aggressoren sehr stark eingesetzt werden, waren sie auch bei der Messe großes Thema. Neben Angriffsdrohnen ging es dabei ebenso um die Drohnenabwehr und wie diese kostengünstig funktionieren kann.
Dafür wurde vom NCSIST, der Forschungs- und Abwicklungsabteilung der taiwanischen Streitkräfte, ein mit 42 Raketen bewaffneter Geländewagen entwickelt.
RTVS verschießt Hydra-70-Raketen
Das System trägt derzeit den sperrigen Namen 2.75-inch Rocket Turret Vehicle System (RTVS). 2.75 bezieht sich auf den Durchmesser der Rakete in Zoll. Das RTVS dürfte demnach die weit verbreiteten Hydra 70-mm-Raketen nutzen. Die Hydra 70 ist normalerweise eine ungelenkte Luft-Boden-Rakete. Sie wurde für Luftunterstützung im Nahbereich konzipiert und wird deshalb vor allem bei Kampfhubschraubern eingesetzt.
Elektro-optischer Sensoren sind in einer Kugel am RTVS-Fahrzeug untergebracht. Dieser kann zur Überwachung eines bestimmten Gebiets eingesetzt werden und zur Erkennung und Erfassung von Zielen. Dadurch erinnert RTVS an das Drohnenabwehrsystem L3Harris Vampire.
Bei Vampire wird allerdings APKWS II genutzt. Das macht aus der ungelenkten Hydra 70 eine lasergelenkte Rakete.
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Dazu wird zwischen dem Gefechtskopf und dem Raketenmotor die WGU-59/B Guidance Unit eingesetzt. Diese enthält Lenkflügel und den Lasersucher. Im Zielsystem von Vampire ist ein Infrarot-Laser enthalten, mit dem die Drohne markiert wird, um die Rakete ins Ziel zu lenken.
Grafische Darstellung von APKWS II. Oben die reguläre Hydra 70. Die WGU-59/B Guidance Unit wird zwischen Gefechtskopf und Raketenmotor eingefügt
© Vslv/Wikimedia Commons
RTVS setzt auf ungelenkte Raketen
RTVS scheint hingegen nicht auf gelenkte Raketen zu setzen – oder diese Information wurde auf der Messe unterschlagen. Die optisch-elektronische Einheit hat laut den Informationen einen Laser-Entfernungsmesser. Ob dieser ebenso zum dauerhaften Markieren von Zielen genutzt werden kann, ist nicht bekannt.
Außerdem ist in den offiziellen Informationen davon die Rede, dass nach dem Erfassen des Ziels seine Flugbahn berechnet wird und ballistischen Kalkulationen durchgeführt werden, bevor die Rakete startet. Das spricht ebenfalls für ungelenkte Raketen. Denn würde die Rakete selbstständig ins Ziel lenken, bräuchte man keine umfangreichen ballistischen Kalkulationen.
Schließlich sind auf der Messe noch 2 70-mm-Raketen für RTVS ausgestellt. Bei diesen fehlt die WGU-59/B Guidance Unit bzw. ein vergleichbares System.
Raketen von RTVS
© x.com/PrinzEugenOwO
Hochexplosiv und mit Stahlkugeln
Es sind 2 Raketen ausgestellt, weil für RTVS 2 Gefechtsköpfe vorgesehen sind: Hochexplosiv und Stahlkugeln. Letzteres deutet darauf hin, dass die Rakete einen Annäherungszünder hat. Das heißt sie explodiert kurz vor dem Ziel, statt bei einem direkten Treffer. Dadurch können sich die Stahlkugeln trichterförmig ausbreiten, ähnlich wie bei einer Schrotladung. Das erhöht die Trefferwahrscheinlichkeit.
Auch für den Hochexplosiv-Sprengkopf wäre beim Einsatz gegen Drohnen ein Annäherungszünder sinnvoll. Es ist aber denkbar, dass dieser zur Bekämpfung von Bodenzielen gedacht ist. Mit 42 Raketen könnte RTVS dabei zu einer Art Mini-Raketenartillerie werden.
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Küstenschutz
Auch gegen leicht gepanzerte Fahrzeuge und Boote wäre ein Einsatz möglich. Daher macht es Sinn, dass RTVS laut Medienberichten für die taiwanische Küstenwache vorgesehen ist. An der Küste könnte RTVS Kamikaze-Drohnen im Stil der Shahed 136 bekämpfen.
Diese fliegen nur etwa 150 bis 300 km/h schnell und sind nicht für Ausweichmanöver ausgelegt. Sie wären also mit den ungelenkten Raketen mit Annäherungszünder, die Überschallgeschwindigkeit fliegen, vermutlich einfach zu treffen. Ebenso könnten mit RTVS bei einer chinesischen Invasion Landungsboote und die chinesischen Schwimmpanzer Type 05 beschossen werden, die sich im Meer nur langsam fortbewegen.
Laut Military News Agency gibt es noch einen akustischen Gefechtskopf, der aber nicht näher beschrieben wird. Anscheinend ist dieser als nicht-tödliche Waffe gedacht, die ein ohrenbetäubendes Geräusch während des Flugs erzeugt.
Damit sollen etwa chinesische Fischerboote, die sich den taiwanischen Inseln nähern, zum Umkehren bewegt werden. Die Lärm-Rakete zerstört sich von selbst, bevor sie ein Boot tatsächlich treffen könnte.
Vorteile der ungelenkten Raketen
Dass auf ein Laserzielsystem verzichtet wird, hat 2 Vorteile. Der Erste ist der Preis. Eine Hydra 70 in der Ausführung APKWS II ist mit etwa 22.000 US-Dollar ohnehin schon weit günstiger als übliche Flugabwehrraketen, die mehrere Hunderttausende bis zu Millionen US-Dollar kosten. Ohne APKWS II kommt sie, je nach verwendetem Gefechtskopf, auf 7.000 bis 10.000 US-Dollar.
Der zweite Vorteil: Weil mit dem Laser nicht das Ziel dauerhaft markiert werden muss, können mehrere Ziele in schneller Folge beschossen werden. Für RTVS wird die Feuerrate mit 1 bis 5 Sekunden pro Rakete angegeben – je nachdem, wie weit die Ziele von RTVS und zueinander entfernt sind (weil der Raketenwerfer von einem zum nächsten Ziel schwenken muss). Die Feuerrate und die Anzahl von 42 Raketen würde jedenfalls ermöglichen, auch Drohnenschwärme zu bekämpfen.
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Die effektive Reichweite von RTVS wird mit 8 km angegeben. Es kann mit Radarsystemen und größeren Luftverteidigungssystemen gekoppelt werden, etwa um als Verteidigungsschicht für den Nahbereich zu dienen.
Weil RTVS als Basis einen Geländewagen nutzt, kann schnell die Position verändert und das Einsatzziel erreicht werden. Falls nötig kann auch während der Fahrt geschossen werden. Zudem gibt es eine Fernsteuerung für das Starten der Raketen. Bei Bedarf kann die Crew das Fahrzeug in Position bringen und sich mit der Fernsteuerung davon entfernen, damit sie nicht zu Schaden kommt, falls der Geländewagen unter Beschuss gerät.
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