Der gefährlichste Klima-Kipppunkt: Politik
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Die Klimakatastrophe wäre viel weniger bedrohlich, wenn sie langsam und kontinuierlich ablaufen würde. Man müsste natürlich trotzdem gegensteuern, könnte sich aber darauf verlassen, dass die Situation zumindest nicht schlagartig schlimmer wird. In Wirklichkeit verläuft die Erderhitzung aber in Sprüngen: Wenn ganz bestimmte Punkte erreicht werden, kann das System kippen und einen völlig neuen Zustand einnehmen. Das lässt sich dann nicht mehr rückgängig machen, selbst wenn wir unseren CO2-Ausstoß auf null reduzieren. Eine Kristallvase, über die Tischkante gekippt ist, wird schließlich auch nicht mehr heil, selbst wenn wir die Scherben sorgfältig auf den Tisch zurücklegen.
Von der Antarktis bis zum Regenwald
Man hat inzwischen eine ganze Reihe solcher Klima-Kipppunkte identifiziert: Würde etwa das Eis in Grönland schmelzen, wäre Grönland nicht mehr weiß, sondern dunkel. Dadurch würde sich der Boden durch das Sonnenlicht noch stärker aufheizen – es kommt zu einem Rückkoppelungseffekt, einem Kreislauf, der sich selbst verstärkt. Ähnliches gilt für den westantarktischen Eisschild: Schmilzt er ab, würde der Meeresspiegel steigen, in weiterer Folge würde wohl auch antarktisches Eis im Landesinneren stärker abschmelzen. Wenn Permafrostgebiete in Kanada und Russland auftauen, könnte möglicherweise Methan, das dort im Boden eingeschlossen ist, freigesetzt werden. Methan ist noch viel klimaschädlicher als CO2 und könnte die Klimakatastrophe ganz plötzlich mit ungeahnter Kraft anheizen.
Die Liste möglicher Kipppunkte ist noch viel länger – sie reicht von der Versteppung des Amazonas-Regewalds über das Sterben von Korallenriffen bis hin zum Kollaps des Golfstroms. All diesen Entwicklungen sollten wir uns mit aller Kraft entgegenstellen. Aber der vielleicht gefährlichste Kipppunkt für das Klima kommt in solchen Listen meist gar nicht vor: Was ist, wenn die Politik kippt? Was ist, wenn die Menschheit die Fähigkeit verliert, gemeinsam gegen den Klimawandel vorzugehen?
Politische Kipppunkte
Zugegeben: Auf besonders glorreiche Weise haben wir diese Fähigkeit bisher nicht unter Beweis gestellt. Es ist eine Schande, wie träge und irrational bisher auf die Gefahr eines Klimakollaps reagiert wurde. Aber immerhin: Es gibt internationale Klimakonferenzen, es gibt gemeinsame Ziele, es gibt endlich auch politische Maßnahmen, die uns in die richtige Richtung führen.
Wir sehen heute aber auch, dass unser politisches System zerbrechlicher ist als wir in den letzten Jahrzehnten dachten. Aus Partnern werden Feinde, aus Verträgen wird Altpapier. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass es so etwas wie globale politische Zusammenarbeit in Zukunft überhaupt noch geben wird. Und was machen wir dann? Diese Gefahr wurde bisher kaum diskutiert.
Was passiert, wenn einige der globalen Hauptverursacher von CO2-Emissionen beschließen, den Klimaschutz zu ignorieren? Lassen dann auch andere Staaten ihre Klimaschutzpläne fallen, aus Angst, sonst wirtschaftliche Nachteile zu haben? Was machen wir, wenn angesichts immer gravierenderer Klimaschäden erpresserische Regierungen damit drohen, ihren eigenen Regenwald oder ihre eigenen Erdgasfelder anzuzünden, falls andere Staaten ihre Forderungen nicht erfüllen? Was passiert, wenn manche Staaten viel Geld investieren, um mit aufwändigen Maschinen CO2 wieder aus der Atmosphäre zu holen, während andere noch immer in großem Stil Kohle und Gas verbrennen? Wird es dann nicht zwangsläufig in den Klimaschutz-Vorreiterstaaten Diskussionen über gezielte Militärschläge gegen ausländische Kohlekraftwerke geben?
Was machen wir mit den vielen Millionen Menschen, die in den nächsten Jahrzehnten wegen der Klimakatastrophe ihre Heimat verlassen müssen? Können klimatisch begünstigte Staaten einfach ihre Grenzen schließen? Die Debatte darüber wird vermutlich heftig und brutal – werden unsere Demokratien das aushalten?
Internationale Zusammenarbeit – so wichtig wie saubere Energie
Genau wie in der Klimaphysik gibt es auch in der Politik Rückkoppelungseffekte, die an bestimmten Kipppunkten außer Kontrolle geraten können. Das bedeutet: Zum Klimaschutz gehört zwangsläufig auch der Schutz politischer Strukturen und internationaler Zusammenarbeit. Politikwissenschaft ist beim Klima genauso gefordert wie Energietechnik und Ökologie. Wir können die besten Elektroautos und die effizientesten Wärmepumpen entwickeln – ohne internationale Zusammenarbeit ist das alles wertlos.
Wir haben als Menschheit nun mal nur eine einzige Atmosphäre, einen einzigen Planeten, einen einzigen globalen Kohlenstoffkreislauf. In den letzten Jahrzehnten haben wir zumindest die Illusion am Leben erhalten, dass wir uns gemeinsam für unsere Zukunft einsetzen wollen. Nun wird sich entscheiden, ob uns das gelingt, oder ob wir an diesem Kipppunkt die falsche Abzweigung nehmen und in anti-globalistische Kleinstaaterei zurückfallen, mit der man zwar nationalistisches Geschrei produzieren aber keine Lösungen umsetzen kann.
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