Parolen sind keine Meinungen
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„Ich weiß nicht, warum die Ukrainer jetzt so einen starken Widerstand machen. Ich denke, der Putin hat ganz gute Ansichten!“, sagt ein Mann bei einer Querdenker-Demo in Dresden. Diese Aussage ist bizarr. Ein Land wird von einer fremden Armee gewaltsam überfallen, Städte werden vernichtet, Menschen werden getötet, und in Deutschland versteht jemand nicht, warum man gegen so etwas denn Widerstand leisten würde.
Ist dieser Mann einfach dumm? Nein. Mit Dummheit hat das nichts zu tun. Niemandem fehlt es an den nötigen analytischen Fähigkeiten um zu erkennen, dass die meisten Leute einen brutalen Angriff auf das eigene Land logischerweise eher nicht so gut finden. Würde man diesem Mann in aller Ruhe klare Fragen dazu stellen, käme er mit Sicherheit selbst auf dieses Ergebnis. Das Problem ist nicht die Schwierigkeit, sich eine Meinung zu bilden. Das Problem ist, den Schritt der Meinungsbildung auszulassen und Parolen mit Meinung zu verwechseln.
Frei von jeder Meinung
Man ist für Putin und gegen die Mainstream-Medien, nicht weil man Argumente gefunden hat. Man ist für Putin und gegen die Mainstream-Medien, so wie man vielleicht Fan von Bayern München ist. Ist einfach so. Sind meine Freunde ja auch. Und die von der Borussia sollen sich alle die Beine brechen! Warum? Darum! Auf geht’s, Bayern schieß ein Tor! Schalla la la!
Man nennt das dann gerne Meinungsfreiheit. Aber Parolen und Schlachtgesänge sind keine freie Meinung, sie sind frei von jeder Meinung. Denn eine Meinung ist eine Sichtweise, die man aufgrund der bisher verfügbaren Informationen und den eigenen, persönlichen Überzeugungen gerade hat. Man übernimmt sie nicht einfach wie einen Schlachtgesang, im vollen Bewusstsein, dass jeder andere Schlachtgesang momentan genauso gut wäre. Eine Meinung glaubt man, weil man festgestellt hat, dass sie zur eigenen Weltsicht passt. Sie muss nichts Ausgeklügeltes sein. Sie kann vorläufig und oberflächlich sein. Man muss dafür auch keine besondere Bildung haben – aber die Meinung muss man gebildet haben. Eine Meinung muss zumindest sinnvoll genug sein, dass man sie in emotional entspannten Momenten selbst glauben kann.
„Ganz ehrlich: Glaubst du das eigentlich selber?“
Das bedeutet freilich noch lange nicht, dass die Meinung klug, durchdacht und vertrauenswürdig ist. „Ich habe nachgelesen und glaube, Impfungen sind prinzipiell gefährlich“ ist keine wissenschaftlich haltbare Sichtweise. Aber es ist zumindest mal eine Meinung. „Die Regierung will uns alle umbringen und im September sind alle Geimpften tot“ hingegen ist keine Meinung, sondern bloß eine Parole. Niemand glaubt das wirklich. Jedem Menschen muss klar werden, dass so etwas nicht stimmen kann, wenn er ehrlich zu sich selbst ist.
In manchen Situationen sind Parolen völlig in Ordnung: „Ein Schuss, ein Tor, die Bayern!“ erhebt nicht den Anspruch, eine Meinung zu sein. Es ist bloß ein gruppendynamisches Erkennungssignal, ein fankulturelles Balzgezwitscher, um Artgenossen an sich zu binden. Das ist vollkommen legitim. Nichts daran ist falsch.
Demokratie funktioniert so aber nicht. In einer Demokratie ist man Teil eines Diskurses, nicht Fan. In einer Demokratie hat man den Auftrag, sich Meinungen zu bilden. Nicht unbedingt kluge oder richtige Meinungen – denn wer kann schon sagen, was das ist. Aber die Meinung muss zumindest mit dem eigenen Wissen und den eigenen Grundsätzen übereinstimmen.
Sie muss nicht klug sein, aber sie soll nicht dümmer sein als wir selbst. Sie muss nicht von uns selbst stammen, aber sie muss zu dem passen, was wir sind. Und dafür muss man die Meinung im eigenen Kopf zunächst ein bisschen abklopfen und hinterfragen. Sonst ist sie inhaltlich genauso wertlos wie ein Schlachtgesang oder der Sinnspruch aus dem Glückskeks. Und darauf sollten wir unser Leben nicht aufbauen.
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