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Netzpolitik

Die Geheimsprache von TikTok: Was ist Algospeak?

„Lasst uns über Seggs reden! Eure Toys zu reinigen ist so wichtig! Lasst uns normalisieren, dass wir über solche Dinge sprechen“, postete die Instagram- und TikTok-Influencerin Lynsey Melissa kürzlich unter ihrem Video. Sie spricht darin über Sex-Toys und zeigt, wie man diese richtig reinigt. Die Influencerin, die auf Instagram 19,6 Tausend Follower*innen und auf TikTok 225 Tausend Follower*innen zählt und sich als lesbisch geoutet hat, spricht von Sex Toys.

Seggs hat sich auf TikTok als Synonym für Sex etabliert, weil der Algorithmus die Inhalte, die das Wort enthalten, „bestraft“, indem er sie entweder gar nicht anzeigt, oder so runterspielt, dass sie kaum jemand zu Gesicht bekommt. Postings, Videos und Fotos werden auf Social Media nämlich schon lange nicht mehr chronologisch angezeigt, sondern Algorithmen bestimmen, welche Inhalte wir zu sehen bekommen.

Woman holds her hand near ear and listens carefully

Für manche mag das, was auf Insta oder TikTok geteilt wird, wie eine Geheimsprache klingen

Algospeak für neue Wortschöpfungen

Wenn dem Algorithmus etwas nicht passt, dann wird es vielen Nutzer*innen oft gar nicht angezeigt, nur der- oder diejenige, der/die es gepostet hat, sieht es. Diese Praxis nennt man „Shadow Banning“. Deshalb hat sich auf Social-Media-Plattformen wie TikTok, aber auch Instagram, eine Art Geheimsprache etabliert. Die Redakteurin Taylor Lorenz von der „Washington Post“ bezeichnet das als Algospeak und der Netzaktivist Cory Doctorow hat die Bezeichnung übernommen.

Algospeak bedeutet also, dass jemand neue Vokabeln erfindet, um den Algorithmus auszutricksen bzw. um zu vermeiden, dass dieser „wütend“ wird und den Inhalt von der Plattform verbannt. Dieses Wort wird zunehmend wichtig, denn durch Algospeak entwickelt sich eine neue Sprache mit einem neuen Vokabular.

TikTok-Nutzer*innen wissen, dass Seggs Sex bedeutet. Vibratoren werden als „spicy eggplant“ bezeichnet, Nippel werden zu „Nip Nops“. Aus queer wird ganz einfach qzeer und aus „lesbian“ wird „le$bian“. Sprachumwandlungsprogramme machten aus dem letzten Wort „Led-Dollar-Bean“ und das steht seither ebenfalls als Synonym für das Wort lesbisch.

Wortfilter zensieren Inhalte

Das bedeutet: Die Wortschöpfungen und Vokabeln auf Social Media verändern sich nicht nur durch die Tatsache, dass Algorithmen immer wieder neue Wörter auf ihre „Liste“ setzen, die verboten sind oder bestraft werden, sondern auch aufgrund von eingesetzter Technik wie Sprachprogrammen, die Texte übersetzen, oder umgekehrt: Programme, die gesprochene Sprache untertiteln. Denn auch Untertitel in Videos fallen auf TikTok immer wieder der Zensur zum Opfer.

Im deutschsprachigen Raum wurden bereits Wörter wie „Massage“ oder „dick“, sowie alle Wörter mit der Silbe „ass“ - also Hass, Rassismus, Wasser, lassen - einem Bericht von netzpolitik.org zufolge zensiert und die Untertitel der Videos mit Sternchen versehen. In dem Fall handelte es sich um einen Fehler des Algorithmus, der aufgrund von englischen Sprachschutzeinstellungen aufgetreten ist. Im Englischen bedeutet „dick“ nämlich Penis und „ass“ Hintern - und diese Wörter sind verboten.

Auf Deutsch ebenfalls verboten und zensiert: Titten, Prostitution, prostituieren, queer, schwul, LGBTQ, homosexuell, Porno und Sex. Die „Tagesschau“ hat 100 Wortkombinationen getestet und ist auf 19 Wörter gestoßen, die von TikTok zensiert wurden. Radio FM4 hat das Experiment wiederholt. Das Posting „Gibt es auch queere und schwule Themen bei Starmania?“ wurde verbannt. Das Problem: Keiner weiß im Vorfeld so genau, welche Wörter es wirklich trifft und auf welche Wortkombinationen der Algorithmus mit Zensur und Shadow Bans reagiert.

Pop art female face in medical mask. Shocked blonde woman in glasses with speech bubble.

Das große Problem: Man weiß als Nutzer*in nicht, was der Algorithmus wirklich zensiert und was nicht

Marginalisierte Communitys häufig betroffen

Der Einsatz solcher Wortfilter führte nun eben zur Entwicklung völlig neuer Vokabeln, die alle verstehen, die sich auf TikTok und Instagram regelmäßig aufhalten. Wer dort nach „Seggs“ sucht, bekommt zahlreiche Bilder und Videos, die sich um Sex drehen. Das Schlimme daran: Der Bann trifft vor allem marginalisierte Communitys, die seit jeher mit Vorurteilen zu kämpfen haben. Lesbische Influencer*innen wie Lynsey Melissa wollen mit ihren Videos und Fotos junge Frauen dazu ermutigen, zu ihrer Sexualität zu stehen und diese als „normal“ zu akzeptieren.

Die TikTok-Influencerin Marlies (mit 208 Tausend Follower*innen) musste bei einem ihrer Videos eine Tafel mit den Wörtern „s3ksu3ll3r G3w4lt“ (sexuelle Gewalt) ins Bild halten, weil das Video sonst dem Algorithmus zum Opfer gefallen wäre. Sie berichtete etwa davon, dass sie öfters Wörter verfremden müsse, um Zensur zu umgehen. Andernfalls drohen den Influencer*innen gravierende Nachteile. Ihre Videos werden etwa heruntergenommen oder gar nicht erst veröffentlicht.

Abkürzungen ebenfalls sehr beliebt

Daher gibt es auf TikTok fast täglich neue Slang-Wörter und Wortneuschöpfungen. Manchmal werden auch keine neuen Wörter kreiert, sondern Abkürzungen als Hashtag hinzugefügt wie etwa „OF“. OF steht für Only Fans. Das ist eine zahlungspflichtige Plattform, auf der nicht selten nicht jugendfreie Inhalte geteilt werden. OF auf TikTok steht daher für Inhalte, die sexualisiert sind. Auch so wird das Wort Sex umgangen und der Algorithmus ausgetrickst. Neben Abkürzungen gibt es auch noch die bewusste Verwendung von Schreibfehlern oder Sonderzeichen, um die Wortfilter von TikTok und Instagram zu umgehen.

Doch nicht nur bei Jugendlichen ist #algospeak beliebt. Auch Impfgegner*innen haben sich allerhand Synonyme einfallen lassen, damit ihre Inhalte auf den Plattformen bestehen bleiben können.

Alles in Allem lässt sich mit Sicherheit sagen, dass Algospeak nicht mehr weggehen und sich tatsächlich eine neue Art von Sprache mit verändertem Vokabular entwickeln wird. Zensur wird im Netz sicher nicht mehr weniger, sondern eher mehr werden und Nutzer*innen und Influencer*innen sind praktisch dazu gezwungen, diese zu umgehen, wenn sie nicht eingeschränkt werden möchten.

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Barbara Wimmer

shroombab

Preisgekrönte Journalistin, Autorin und Vortragende. Seit November 2010 bei der Kurier-Futurezone. Schreibt und spricht über Netzpolitik, Datenschutz, Algorithmen, Künstliche Intelligenz, Social Media, Digitales und alles, was (vermeintlich) smart ist.

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