Die Psychologie der Pop-up-Stadt
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Wir hassen Verluste mehr, als wir Gewinne lieben. Das gilt nicht nur für die Befürchtung, etwas von materiellem oder emotionalem Wert zu verlieren, sondern auch für Gewohnheiten. Wenn ein Verlust droht, handeln wir Menschen irrational in unserem Bemühen, ihn abzuwenden. Selbst dann, wenn rational betrachtet auf der anderen Seite ein Gewinn an Gesundheit, Lebensdauer oder Lebensqualität steht. Was wir als Gewinn oder als Verlust definieren, ist eine Frage der Wahrnehmung, und die ist beeinflussbar.
Der Begründer der Verhaltensökonomik Daniel Kahneman unterscheidet zwei Systeme unseres Denkens. Das intuitive, schnelle, automatische „System 1“ und das rationale, langsame, abwägende „System 2“. Um Entscheidungen zu treffen, wägen wir nicht zuerst rationale Fakten ab. Wir greifen stattdessen mit dem System 1 auf unsere Erinnerungen und Prägungen zurück und beurteilen eine Situation danach, ob sie uns vertraut oder vorstellbar erscheint. Das Muster, dass wir bei Entscheidungen auf Informationen zurückgreifen, die wir intuitiv im System 1 abrufbar haben, nennt sich Verfügbarkeitsheuristik.
Verlustaversion vs. Visionen
Die menschliche Verlustaversion stellt visionäre Städteplaner*innen vor die Herausforderung, dass spürbare Veränderungen immer auf Widerstand stoßen. Egal wie viele gesellschaftliche, wirtschaftliche oder auch ganz persönliche Vorteile nach einer Umgestaltung winken, sie wird in erster Linie immer mehrheitlich als Bedrohung des gewohnten Lebensumfelds wahrgenommen werden. Jede Veränderung muss also begleitet werden mit verschiedenen Methoden, um Akzeptanz zu erzeugen.
Die Fakten sprechen klar für die Neuverteilung des Straßenraums in Städten, die ein Jahrhundert lang für den Autoverkehr geplant wurden. Mehr Platz, mehr Aufenthaltsqualität, mehr Sicherheit, weniger Lärm, weniger Schmutz, bessere Luft, um nur einige aufzuzählen. Aber wie wir bereits wissen, reichen diese rationalen Informationen nicht aus, um eine Veränderung als Gewinn zu beurteilen. Man muss die Hard Facts rüber bekommen in unseren Autopiloten, das Denk-System 1. Damit sie verfügbar wird, müssen wir Bezug herstellen und die neue Situation vertraut oder vorstellbar machen.
Veränderung erlebbar machen
Es gibt viele Methoden, wie das gelingen kann. Durch gezielte Kommunikation, Beteiligung, häufige Wiederholung, einprägsame Bilder oder durch repräsentative Beispiele aus anderen Städten. Am besten jedoch funktioniert das Schaffen positiver Erlebnisse mit der Veränderung. Genau das ist das Erfolgsrezept von Pop-ups und temporären Umgestaltungen: Sie zeigen den Menschen, wie es sein könnte. Und das ganz entspannt, ohne den Stress der Verlustangst auszulösen. Sie machen eine neue Vorstellung verfügbar, auf die wir zugreifen können und das erleichtert es uns, eine umweltfreundliche Entscheidung – in dem Fall für eine verkehrsreduzierte Stadt – zu treffen.
Die in den COVID19-Ausgangsbeschränkungen entstandene neue Nutzung des Straßenraums hatte genau diesen Nebeneffekt. Zahlreiche Menschen machten die Erfahrung, auf extrem verkehrsreduzierten Straßen zu Fuß unterwegs zu sein oder sind aufs Fahrrad umgestiegen, weil der öffentliche Verkehr eingeschränkt war. Weltweit reagierten die Verantwortlichen in Städten auf das notwendig geänderte Mobilitätsverhalten: mit temporären Straßensperren für Fußgänger*innen und Pop-up-Radewegen.
Temporäre Umgestaltungen sind keine Erfindung der Krise. Sie sind schon lange aktivistisches Element von Bewegungen, die die Straßen und Städte für Menschen zurückerobern wollen. Am „Parking Day“ rufen seit vielen Jahren in immer mehr Städten Gruppen dazu auf, einen Tag lang Parkplätze zu kreativen Begegnungsorten zu machen. Mittlerweile beschränken sich solche Aktionen nicht mehr nur auf diesen einen bestimmten Tag im Jahr, wie zum Beispiel „Platz für Wien“ zeigt.
Momentum nutzen
Die Aktionsformate wurden von Städteplaner*innen und politisch Verantwortlichen sukzessive übernommen. Nicht erst die während und nach Corona etablierten Pop-up-Radwege zeigen von Bogotá bis Wien, was möglich wäre, wenn man Städte umgestalten würde. Hamburg wagte vergangenen Sommer den Versuch, die Innenstadt teilweise drei Monate autofrei zu machen, mit überwiegend positivem Feedback. Das eindrucksvollste Erfolgsbeispiel ist jedoch in New York zu finden: Wer heute dort über den Times Square flaniert, kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass dieser Platz einst ein stark befahrener Hauptverkehrsknotenpunkt des Big Apple war. 2009 wurde er vorübergehend zur Fußgänger*innen-Zone gemacht. Die kam so gut an, dass die Menschen sie nicht mehr hergeben wollten und so wurde der Platz permanent autofrei.
Städtepolitische Verantwortung für eine nachhaltige Zukunft bedeutet, das Umfeld der Menschen so zu gestalten, dass ihnen umweltfreundliche Entscheidungen leichter fallen. Dazu gehört, das Momentum nach den Ausgangsbeschränkungen nicht tatenlos verstreichen zu lassen, sondern es für eine positive Transformation zu nutzen und unser aller neu gewonnene Vorstellungskraft weiter zu beflügeln: mit temporären und künftig womöglich permanenten Radwegen, Begegnungszonen, Flaniermeilen, Spielstraßen, Grünoasen, Gürtel-Pools, erweiterten Bauernmärkten und Gastgärten.
Über die Autorin
Tina Wirnsberger ist Trainerin für nachhaltige Wirtschaft & Politik und Sozialpädagogin. Sie war bis Jänner 2019 Grüne Stadträtin für Umwelt und Frauen in Graz.
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