Ein Jahr nach der Übernahme: Wie Elon Musk Twitter demoliert hat
„The bird is freed“, der Vogel ist befreit. Mit diesen Worten endete am 28. Oktober 2022 ein monatelanger Kampf um die Übernahme des sozialen Netzwerks Twitter. Sie stammen von Tesla-Geschäftsführer Elon Musk, der Milliardär kaufte die Plattform damals um 44 Milliarden US-Dollar.
Eine Namensänderung, tausende Entlassungen, eine neue CEO und viele neue Features später steht Twitter, das mittlerweile in X umbenannt wurde, schlechter da als zuvor. Der Niedergang einer Plattform in 5 Punkten.
1. Musk übernimmt "ein brennendes Flugzeug"
Alles beginnt im Frühjahr 2022. Damals erwirbt Elon Musk erste Anteile von Twitter. Wenig später startet er den Versuch einer Übernahme. Twitter wehrt sich, bis der Kauf dann im Herbst doch über die Bühne geht. Warum Musk Twitter gekauft hat, weiß wohl nur er mit Sicherheit.
Er wolle die Plattform nur kontrollieren, um daraus einen eigenen Vorteil zu ziehen, meinen manche. Andere sind der Ansicht, Musk sei tatsächlich daran interessiert, Twitter zu verbessern. Dazu gehört Musk-Biograf Walter Isaacson. „Ich begann zu glauben, dass Twitter auf eine Klippe zusteuert“ zitiert Isaacson Musk in seinem neuen Buch. „Also dachte ich, ich sollte es vielleicht einfach kaufen […] und es reparieren.“
Tatsächlich ging es mit Twitter damals nicht unbedingt bergauf. Die Nutzer*innenzuwächse der Plattform gerieten ins Stocken und auch der Aktienkurs der Plattform plätscherte vor sich hin. Musk habe damals, „ein brennendes Flugzeug ohne Steuerung“, übernommen, wie er selbst sagte.
Um das Unternehmen vor einem Absturz zu retten, spart der neue CEO also an allen Ecken und Enden. Quer durch die Bank werden kostenlose Mittagessen gestrichen, Designer-Möbel verscherbelt, Teams verkleinert oder ganz aufgelöst. Während Twitter im Oktober 2022 7.500 Angestellte verzeichnet, schrumpft die Belegschaft innerhalb weniger Monate auf 1.500 (Stand April) – mit schwerwiegenden Folgen.
2. Hassrede, Fake News und das Moderations-Versagen
Denn Musk entlässt unter anderem Mitarbeiter*innen, die sich um kritische Inhalte kümmern - die sogenannte Content-Moderation. Ohne sie steigt die Zahl der Hasspostings auf der Webseite an, wie zahlreiche Studien zeigen. Jene Forscher*innen, die auf das Problem aufmerksam machen, verklagt Musk übrigens.
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Neben der Hate Speech nimmt auch die Zahl der Spam-Nachrichten auf Twitter bzw. X zu. Von Lockangeboten zu angeblich profitträchtigen Investments bis zu Fake-Jobs: In den Feeds und Postfächern der Nutzer*innen landet immer mehr „Schrott“.
Gleichzeitig kursieren auf der Plattform immer mehr Falschinformationen. Von russischer Propaganda, über antisemitische Verschwörungstheorien: Problematische Beiträge häufen sich und werden sogar von Musk selbst befeuert – alles unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit. So verbreitet der CEO beispielsweise Verschwörungstheorien rund um den jüdischen Milliardär George Soros, der regelmäßig Ziel von antisemitischen Angriffen ist. Unlängst empfahl Musk auch Accounts, die Propaganda der Terrororganisation Hamas verbreiteten.
Das ruft auch die EU-Kommission auf den Plan. In einer Untersuchung stellte die Institution fest: Keine große Onlineplattform verbreitet aktuell mehr Desinformation. Das könnte rechtliche Konsequenzen haben. Denn für die Verletzung des europäischen Digitalgesetzes DSA drohen hohe Geldstrafen. Musks Antwort folgt prompt. Der Milliardär will nicht zahlen und droht mit einem Rückzug von X aus der EU.
3. Kunden-Exodus und Geldprobleme
Wundern sollte diese Drohung nicht. Denn eine Geldstrafe könnte dem ohnehin angeschlagenen Unternehmen wehtun. Musk hat Twitter zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt übernommen. Ende 2022 wird die Wirtschaftslage immer rauer, dank den Nachwehen der Pandemie und aufgrund des Ukrainekrieges. Twitter brechen mehr und mehr Werbekund*innen weg. Auch weil ihnen die zunehmenden Hassreden, Verschwörungstheorien und Fake News auf der Plattform missfallen - sie wollen nicht, dass ihre Marke neben radikalen Inhalten auftaucht.
Mit den Werbekund*innen gehen aber auch ein Großteil der Einnahmen flöten. Die Werbeerlöse des Unternehmens hätten sich seit der Übernahme halbiert, betont Musk immer wieder. Zu den fehlenden Einnahmen kommen Kredite, die der Milliardär dem Unternehmen im Zuge der Übernahme aufgebürdet hat. Rund 13 Milliarden Dollar lasten auf dem Konzern, hinzu kommen Zinsen ebenfalls in Milliardenhöhe.
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4. Neuer Name und neue Features sollen’s richten
Musk zieht Konsequenzen. Im Frühjahr setzt er sich selbst als CEO ab und ein neues Gesicht, die Werbeexpertin Linda Yaccarino, ein. Zusätzlich versucht er die Einnahmelücke aus anderen Quellen zu schließen. Viel Hoffnung setzt er in sein Bezahl-Modell „Twitter Blue“. Doch das will nicht zu richtig zünden. Nutzer*innen, die anfänglich ein Abo abgeschlossen hatten, wenden sich ab. Andere sind von dem Angebot genervt. Entweder weil ihr Feed nun Premium-Konten bevorzugt. Oder weil das blaue Hakerl, das einst als Gütesiegel für verifizierte Konten galt, jetzt einfach käuflich ist.
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Im Sommer greift Musk also erneut in die Trickkiste: Ein neuer Name soll die Probleme lösen. Twitter wird in „X“ umbenannt. Ein Schritt, den viele Expert*innen kritisch sehen. So bezeichnet die Handelszeitung es etwa als „hirnlos“ einen „solchen Namensschatz auf den Markenfriedhof zu werfen“.
Mit dem neuen Namen führt Musk auch viele neue Funktionen ein. So spielen Videos heute auf der Plattform eine größere Rolle. Musk treibt offenbar die Vision einer „Allrounder-App“ voran, die vom Microblogging wegführt und auch Sprach- und Video-Anrufe in einer Anwendung vereint.
5. X hält sich (noch) über Wasser
Den Nutzer*innen scheinen die Ansätze von Musk jedenfalls weniger zu gefallen. Wie die Werbekund*innen laufen auch sie Twitter davon. Laut der Analysefirma Apptopia sind die Nutzerzahlen der mobilen X-App seit der Übernahme um rund 13 Prozent zurückgegangen. Ein ähnliches Bild zeichnet eine Analyse von Similarweb.
Ist X also auf dem Weg in die Irrelevanz? Im Moment ist die Plattform keineswegs tot, wie viele Musk-Kritiker*innen prophezeiten. Das liegt wohl in erster Linie daran, dass es bislang keine echte Konkurrenz zu X gibt. Nach anfänglicher Euphorie tummelt sich auf X-Alternativen wie Mastodon, Threads, oder BlueSky aktuell ein vergleichsweise kleines Publikum, wobei hierzulande gerade letzteres zuletzt immer relevanter geworden ist.
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X verliert jedenfalls an Relevanz. Das Unternehmen wird heute mit 19 Milliarden Dollar bewertet. 25 Milliarden Dollar weniger als Twitter bei der Übernahme wert war. Den Milliardär dürfte das aber gar nicht so sehr jucken. Er gilt nach wie vor als reichster Mensch der Welt.