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Meinung

Corona, Klima und Kognitive Dissonanz

Von einer „Entschleunigung“ des Lockdowns, die im Frühjahr (eine Ewigkeit her!) noch unsere Timelines mit Sauerteigbrot und Naturentdeckungen am täglichen Spaziergang gefüllt hat, spricht niemand mehr. „Entschleunigung“, das hat der Lebensrealität der Mehrheit der Menschen ohnehin gar nicht entsprochen. Viele waren massiv mehrfachbelastet, verloren ihre Arbeit, mussten um die Existenz ihrer kleinen oder mittleren Unternehmen kämpfen oder um die Gesundheit geliebter Personen bangen.

Kognitive Dissonanz

War also von purer Dekadenz getrieben, wer sich Nudelmaschine, E-Mountainbike, Yoga-App oder Häkelnadeln zulegte, während in der wahren Welt da draußen eine globale Pandemie die Straßen leert? Mitnichten. Ohne auszublenden, dass sozialer Status eine entscheidende Rolle dabei spielt, wie gut oder schlecht man durch Krisen kommt, so kann man das Lockdown-Biedermeiern doch als das sehen, was es für die meisten war: Eine Copingstrategie. Der Fuß, den man aus dem Bett stellt, damit es aufhört sich zu drehen.

Corona und die Maßnahmen dagegen haben uns alle in einen permanenten Zustand kognitiver Dissonanzen versetzt, also widersprüchlicher Gedanken, Verhaltensweisen und Einstellungen. Wir wissen, dass Kontaktreduktion der beste Weg ist, uns zu schützen und Infektionsketten zu durchbrechen. Trotzdem ist da die große Sehnsucht nach Umarmungen statt Fistbumps, nach geselligen Runden und durchtanzten Nächten. Dieser ständige innere Konflikt ist belastend. Im natürlichen Bestreben nach Ausgeglichenheit versuchen wir ganz automatisch, solche Widersprüche unbewusst aufzulösen, und zwar meist nach ähnlichen Mustern.

3 Strategien

Wir neigen dazu unser Verhalten so zu ändern, dass es zu unserer Einstellung passt. Also zuhause bleiben statt Freund*innen in der Bar treffen. Manchen mag diese Verhaltensänderung leichter fallen, wenn sie der Häuslichkeit mit Sauerteig und Tomatenzucht einen neuen Sinn geben. Wir können die Dissonanz aber auch reduzieren, indem wir umgekehrt unsere Einstellung an unser Verhalten anpassen, also die Ansteckungsgefahr oder die Schwere von Covid-Erkrankungen herunterspielen. Im Extremfall malen wir dann Schilder gegen Lügenpresse und Impfzwang und marschieren auf Demos gegen einen vermeintlichen Coronawahnsinn auf.

Eine dritte häufige Strategie, mit der wir unbewusst dem inneren Widerspruch begegnen, ist das Hinzufügen einer weiteren Annahme. Ich lade also zu einem kleinen geselligen Abend ein, denn schließlich habe ich mich mittlerweile 8 Monate lang streng an alle Maßnahmen gehalten, während andere viel exzessiver Party gemacht haben und ein einziges Mal werde ich mir das schon gönnen dürfen.

Widersprüchliche Klimakrise

Die kognitive Dissonanz begegnet uns auch im Umgang mit der Klimakrise häufig und das Wissen darum kann uns helfen, unser eigenes Verhalten und das unserer Gegenüber zu verstehen und Einfluss darauf zu nehmen. Wir wissen um den Ernst der Lage: Die Auswirkungen der menschgemachten Klimakrise werden immer deutlicher spürbar, von Waldsterben über Gletscherschmelzen, zunehmende Hitzetage und Extremwetter-Ereignisse. Wir kennen auch die Ursachen davon und wissen um unsere eigenen Möglichkeiten, CO2 einzusparen und einen Beitrag zu leisten. Trotzdem finden wir es praktisch, bei Amazon zu bestellen oder das ganze Jahr über billiges Gemüse aus Spanien im Supermarkt zu kaufen. Dieses Verhalten passt aber nicht mit unserer Einstellung zusammen, Umwelt- und Klimaschutz wichtig zu finden.

Wir können nun wieder unser Verhalten ändern und unsere Bücher ab sofort im Buchladen um die Ecke kaufen und unser Gemüse bei der Bäuerin am Markt. Wir können aber auch unsere Einstellung ändern. Das heißt, ich kann der Meinung sein, dass ich als Individuum allein durch meine Verhaltensänderung ohnehin nichts bewirken könnte. Manche gelangen auch zur Überzeugung, dass die Ökofundis alle übertreiben und sie sich nicht vorschreiben lassen, wie sie zu leben haben und dass der Klimawandel eine Erfindung von jungen Schwedinnen mit Zöpfen ist, die sie unterjochen wollen.

Die dritte Strategie, die des Hinzufügens einer weiteren Annahme, könnte in diesem Beispiel so aussehen, dass man sich vor Augen führt, wo man überall schon einen Beitrag zum Klimaschutz leistet. Man fährt Rad statt Auto, trennt Abfall, kauft Second Hand Klamotten, also kann man auch mal bei Amazon bestellen oder im Winter Erdbeeren aus den Plastikplanenwüsten Almerías kaufen.

Die vierte Strategie

Diese Mechanismen sind sowohl im Umgang mit der Pandemie als auch mit der Klimakrise natürliche Abläufe, mit denen wir einfach versuchen, in der Welt zurecht zu kommen. Wenn wir sie kennen, können wir versuchen, aus unbewussten Strategien bewusste Entscheidungen zu machen. Mit diesem Wissen können wir uns auch die kognitive Dissonanz bewusst machen, die das Abwälzen politischer Verantwortung auf Individuen erzeugt. Wenn es in Zeiten von Corona erlaubt bleibt, sich in Einkaufszentren zu drängen, dann werden die Menschen das auch tun. Wenn fliegen billiger als Zugfahren ist, dann steigt man eher in den Flieger. Wie wäre es also mit einer vierten, bewussten Strategie: Fordern wir gemeinsam eine Politik ein, die mit klaren Entscheidungen unsere kognitiven Dissonanzen reduziert, ohne uns Eigenverantwortung abzusprechen.

Über die Autorin

Tina Wirnsberger ist Trainerin für nachhaltige Wirtschaft & Politik und Sozialpädagogin. Sie war bis Jänner 2019 Grüne Stadträtin für Umwelt und Frauen in Graz.

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Tina Wirnsberger

Tina Wirnsberger ist Trainerin für nachhaltige Wirtschaft & Politik und Sozialpädagogin. Sie war bis Jänner 2019 Grüne Stadträtin für Umwelt und Frauen in Graz.

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