Audiostream gegen kriminelle Regenwaldzerstörer
Ohne den Lockdown im Frühjahr als heilendes Momentum für den Planeten zu romantisieren, kann man wohl festhalten, dass viele von uns im Jahr 2020 weitaus mehr Zeit in der Natur verbracht haben als je zuvor in ihrem Leben. Ein Beweis dafür sind Facebook und Instagram, die sich mit Bildern von Blüten und Insekten in allen Farben und Formen und zuletzt mit der üppigen Ausbeute erfolgreicher Schwammerlsucher*innen füllten.
Diverse Diskussionsgruppen auf Social Media und auch digitale Bestimmungsbücher am Smartphone erlebten dabei einen Schub: Mit etlichen Natur-Apps kann man binnen Sekunden herausfinden, was da blüht, krabbelt oder singt.
Singvogel-Shazam
Mein persönliches Highlight war eine Art Shazam für Vogelgesang, das man dank des abwesenden Autolärms in der Lockdownphase sogar in der Stadt verwenden konnte. Die App hat mein davor überschaubares Wissen um die Singvögelchen um mich herum unglaublich bereichert.
Wenn es wo zwitschert, startet man in der Anwendung eine Tonaufnahme, die geht zur Analyse an eine Datenbank, schlägt binnen Sekunden vor, mit welchem Vogel man es zu tun hat und liefert alle Informationen zu dem kleinen Sänger.
Audiostream gegen Regenwaldzerstörung
Apps wie diese haben aber nicht nur den positiven Effekt, uns Wissen um die Natur um uns herum näher zu bringen, sondern unsere Eingaben nützen umgekehrt auch der Forschung, weil sie die Datenbanken mit wertvollen Informationen füllen. So kann die Dokumentation der Fundorte dabei helfen, Naturschutzgebiete auszuweisen.
Das Prinzip, nach dem ich durch digitale Unterstützung die Singvögel vor meiner Haustür kennengelernt habe, kann aber noch viel mehr: Es bringt die Geräuschkulisse aus Regenwäldern rund um den Globus in Echtzeit auf unsere Handys und kann uns so nicht nur Forscher*innen mit öko-akustischen Daten versorgen oder User*innen mit Affinität zu Naturgeräuschen „durch den Lockdwon bringen“, wie ein Anwender auf Twitter schreibt, sondern die illegale Abholzung und Wilderei in den großen Regenwäldern der Erde minimieren.
Alte Handys spüren Wilderer auf
Das nonprofit Unternehmen „Rainforest Connection RFCx“ verwendet dazu ausrangierte Mobiltelefone, künstliche Intelligenz und eine Cloud, um illegale Holzfäller und Wilderer aufzuspüren.
Die Idee dazu kam dem Gründer bei einem Aufenthalt in Indonesien: In einem Gibbonreservat waren illegale Holzfäller ganz in der Nähe der Rangers zugange, die sie jedoch nicht entdeckten. Er realisierte, dass die Ranger nicht etwa mit Absicht wegschauten, sondern die natürlichen Geräusche im Regenwald einfach so ohrenbetäubend laut waren, dass sie tatsächlich die Motorsägen übertönten. Die Ranger konnten die Eindringlinge auf ihrer Patrouille gar nicht hören. Topher White bot an, ein System zu entwickeln, mit dem sie ein größeres Gebiet überwachen und Eindringlinge schon stoppen könnten, bevor der Schaden angerichtet war.
Seitdem befestigt RFCx Konstruktionen aus alten Mobiltelefonen, Solarelementen und einem Mikrofon hoch in den Bäumen. Diese „Guardians“, wie RFCx die wie riesige schwarze Blumen aussehenden Teile nennt, nehmen jeweils die Geräusche aus einem Kilometer Umkreis auf und streamen sie in Echtzeit über eine Cloud. Eine KI analysiert die Sounds, erkennt die Geräusche von Motorsägen, Trucks und auch Schüssen und sendet über dasselbe Netzwerk binnen Sekunden einen Alarm an die App. Sie wird mittlerweile von Rangern, Umweltschützer*innen und Behörden in 14 Ländern quer über den Globus verwendet.
Kampf indigener Umweltschützer*innen
In Brasilien werden Indigene im Kampf gegen die massive Waldzerstörung von der Regierung nicht nur im Stich gelassen, sondern Präsident Bolsonaros Politik bestärkt die illegalen Holzfäller noch weiter. Also behelfen sich die Indigenen selbst und nutzen dazu auch die Technologie der Rainforest Connection.
So haben alle Mitglieder des Stammes der Tembé im brasilianischen Bundesstaat Para die App installiert, um umgehend reagieren zu können, wenn ein Alarm illegale Aktivitäten meldet. Dadurch gelang es ihnen nach eigenen Angaben im Vorjahr, etwa 100 illegale Holzfäller in ihrem Gebiet festzusetzen und den Behörden zu übergeben.
Ungefährlich ist das freilich nicht: Die Eindringlinge sind häufig bewaffnet. Die Ranger der Los Amigos Conservation Concession im peruanischen Amazonas-Gebiet senden daher Drohnen, um das illegale Eindringen zu dokumentieren und den Behörden zu melden, wenn die App ihnen Audio-Alarme von Kettensägen und Traktoren übermittelt.
Keine digitalen Naturgeschichtemuseen
So wertvoll der Beitrag von digitalen Innovationen wie diesen ist, um Umweltschützer*innen ein Werkzeug in die Hände zu geben: Selbst die besten Technologien können den Kampf gegen illegale und legalisierte Umweltzerstörer nicht gewinnen, solange Regierungen dieser Welt sie gewähren lassen oder gar mit ihnen unter einer Decke stecken.
Der tatsächliche Mehrwert solcher Apps von Regenwaldgeräuschen über Insektenbestimmung und Pilzdatenbank kann nur dann sein ganzes Potenzial entfalten, wenn wir mit ihrer Hilfe der Natur um uns näher kommen und uns auch bewusst machen, dass wir sie nicht nur fotografieren, sondern bewahren müssen.
Wenn wir nicht vehement klimagerechtes Handeln von uns, unserem Umfeld und von Politik und Wirtschaft einfordern, könnte es allzu bald passieren, dass unsere Fotos, Videos und Audioclips zu den letzten Dokumentationen ausgestorbener Arten und unsere Apps zu digitalen Naturgeschichtemuseen werden.
Über die Autorin
Tina Wirnsberger ist Trainerin für nachhaltige Wirtschaft & Politik und Sozialpädagogin. Sie war bis Jänner 2019 Grüne Stadträtin für Umwelt und Frauen in Graz.